Wer zur Verbesserung der Welt die Freiheit einschränkt ist Wegbereiter menschlicher Tragik.
Kolumne im Wochenspiegel vom 2. März 2011
Wenn ältere Deutsche erzählen, wie sie in den 30er-Jahren in den Krieg gerutscht sind, findet man Vernunft und Wohlwollen zur Weltverbesserung als Grundlage täglicher Entscheidungen. Aufbruchstimmung – von der sich zu lösen nach der Wirtschaftskrise unvernünftig gewesen wäre – mutierte Schrittchen für Schrittchen zur bedrohlichen Raserei. Man war nicht frei, wie es im Nachhinein den Anschein hat und man dachte nicht frei, wie wir Schweizerinnen und Schweizer es gewohnt sind. Freiheit hat unsere Urgrosseltern vor dem Krieg bewahrt. Väter lagen, Gewehre im Anschlag, an der Grenze. Die Gefahr war real und blieb draussen. Die Urgrosseltern haben das gut gemacht.
Die Grosseltern sind im Krieg geboren. Sie haben als Kinder die Bombardierungen von Schaffhausen, Rafz und Rheinsfelden erlebt, sind im kalten Krieg erwachsen geworden, fühlten Angst vor Atomschlägen (z.B. Kubakrise). Sicherheit war stetes Bestreben, ob durch Selbstschutz (die Konservativen) oder durchs Kollektiv (die 68ziger). Ebenso Freiheit: Ob von Normen (die 68ziger) oder als Unabhängigkeit (die Konservativen). Politik war wichtig.
Meine Generation kennt nur Wohlstand. Uns geht es nicht um Broterwerb, sondern um Karriere, nicht um Unterkunft, sondern um eine moderne Wohnung in schöner Lage. Die Kleider sind jeden Tag frisch gewaschen. Armut ist reicher als in weit entfernten armen Ländern und Bildung ist selbstverständlich, Ausgang am Wochenende deshalb wichtiger. Wir denken nicht an Krieg. Gewalt gibt es nicht; sie wird therapiert oder versteckt. Viele sind immer noch für Weltverbesserung.
Das Gemeinwesen verbessert die Welt: Neue Gesetze wollen Unglück verhindern, Armut verkleinern und den „Service public“ vergrössern. Kellnerinnen werden nicht mehr durch Rauch geplagt, Kindererziehung unterliegt staatlicher Qualitätskontrolle, Schulen werden für Gruppenunterricht umgebaut, Milizleistungen (Rechnungs-prüfung, Betreibungsbeamte, Schulaufsicht) werden professionalisiert, verbessert, verlässlicher.
Doch auch sinnvolle Leistungen bleiben finanzielle Verpflichtungen. Und reduzieren Eigenverantwortung und Freiheit.
Finanziell leben wir über den Verhältnissen: Der Kanton ist zu mehr verpflichtet, als es budgetierbare Erträge gibt. “Strukturelles Defizit“ nennt man das. Dagegen will die SP die Steuern erhöhen (für noch mehr Leistungen), die SVP das Gegenteil. Die wahren Zauberer sitzen in der Mitte: FDP und CVP versprechen Leistungsausbau (Jugendhilfegesetz, Integrationsgesetz) und weniger Staat J – Perpetuum Mobile! In der Realität kamen wir bisher mit einem blauen Auge davon (vier Sanierungsprogramme seit 2004), dank buchhalterischen Aufwertungen, Goldmilliarden und unerwartet hohen Steuererträgen. Gesund wäre anders.
Wenn der Staat organisiert, subventioniert, sich selbst professionalisiert und evaluiert entfällt die Anstrengung, Verantwortung aktiv zu tragen. Deshalb ist Freiheitsverlust angenehm. Denken, argumentieren, organisieren, die Gemeindeversammlung besuchen, freiwillige Rücksichtnahme und Nachbarschaftshilfe – bürgerliche Pflichten – werden überflüssig und Abhängigkeit zur Gewohnheit.
Hat diese Gewohnheit die Gesellschaft durchdrungen und kommen einst existentielle Sorgen hinzu (wenn wir über Jahre mehr Leistungen konsumieren als erarbeiten ist dies absehbar), werden wir kollektiv den Aufbruch suchen. Damit nahm dieser Text seinen Anfang.