Der Wind darf die Flammen nicht ausblasen. Wer einmal ein Feuer aus einer Glut entfachen wollte, weiss, was ich meine. Mit sanften Blasen, dem Zuführen von Sauerstoff, züngeln schon bald muntere Flammen. Mit zu festem Blasen wird das Feuer ausgelöscht.
Ziel: Perspektivenwechsel
Ich war Schulpfleger und bin Lehrer (Sekundarlehrer in Zürich-Seebach) und sehe deshalb die Schulreformen aus verschiedenen Perspektiven. Diesen Text lesen Schulpflegerinnen und Schulpfleger und Lehrerinnen und Lehrer – es wäre Wasser in den Rhein getragen, wenn ich hier die ganzen Reformen aus einer umstrittenen Schulpflegersicht oder einer ebenfalls umstrittenen Lehrersicht beleuchten würde.
Ich will etwas anderes erreichen. Nämlich einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel bewirken. Leserinnen und Leser sollen nach der Lektüre die Schule von «innen nach aussen» betrachten. Um einen inneren Kern herum ist die «Organisation Schule» angelegt. Und dieser Kern muss im Zentrum allen Tuns stehen. Es wäre leichtsinnig, die Organisation Schule zu reformieren, ohne die Auswirkungen auf den inneren Kern genau zu überdenken. Es ist Zeit vergeudet, eine Reform anzusetzen, wenn der innere Kern diese gar nicht benötigt.
Der Kern der Schule
Reformen strukturieren und organisieren
Was ist gemeint, mit «innerem Kern»? Der folgende Abschnitt wird Sie zu diesem Kern führen. Aussen liegen jene Begriffen, welche die Bildungsdiskussion zur Zeit prägen: Die Titel von Reformprojekten der vergangenen oder der nächsten fünf Jahre. Einige wurden mit dem «Nein zum Volksschulgesetz» vom 24. November 2002 in die Warteschlaufe gesetzt. Sie haben mit einzelnen Schulhäusern zu tun, mit Gemeinden, mit dem Kanton und zum Teil gar mit dem Bund. Die Liste ist zu lang:
Blockzeiten, Mittagstisch, Aufgabenhilfe, Besuchstage statt Examen, Neuer Lehrplan, Einführung und Umsetzung, Elternmitbestimmung, Oberstufenreform mit gegliederter und dreiteiliger Sekundarschule, Mitarbeiterbeurteilung / Lehrerqualifikationssystem, Englisch ab der ersten Oberstufe, Englisch ab der zweiten Primarschule, Französisch ab der fünften Klasse, Obligatorischer Religionsunterricht auf der Oberstufe, Neue Schulaufsicht – für Schuleinheiten und neu auch für einzelne Lehrpersonen, Qualität in multikulturellen Schulen, Zeugnisreform / Abschaffung der Noten, Grundstufe oder Kantonalisierung des Kindergartens, Schülerpauschale, Teilautonome Volksschule, gesundheitsfördernde Schulen, Gsundi Schuel, Lebensraum Schulhausumgebung, Suchtprävention, Gewaltprävention, Aidsaufklärung und viele weiteren Projekte zum Schulklima, zum Beispiel Vernetzungsangebote zur Schülermitbestimmung (Megafon, Stadt Zürich), Reform des sonderpädagogischen Angebotes (RESA), Einführung der Integrativen Schulungsform (ISF, neu IF), Abschaffung der Bezirksschulpflegen, Pädagogische Hochschule anstelle der herkömmlichen Lehrerbildung, Fächergruppen, anstelle von Stufenlehrkräften, …
Zur Bildungspolitik gehören auch der Mittelschul-, und Hochschulbereich (sekundäre und tertiäre Bildungsstufen). Auch aus diesen Bildungsstufen gelingt es, grosse Reformprojekte zu nennen: Beispielsweise die Einführung und Umsetzung der neuen Maturitätsanerkennungsverordnung (MAR), gegen die ich mich einst als Mittelschüler eingesetzt habe, oder die Kürzung der Mittelschuldauer von 4.5 auf 4 Jahre ohne Niveausenkung, oder die Umsetzung des neuen Universitätsgesetzes, oder auch die zahlreichen neu geschaffenen Eignungstest vor dem Antritt einer Berufslehre (z.B. Basiccheck, Mulitcheck, ZLI) oder die umfassende Reform der Ausbildung zum Kaufmann/zur Kauffrau (und anderer Berufsausbildungen), oder die Umwandlung der höheren Lehranstalten und Seminaren zu Fachhochschulen und die Einführung der Berufsmaturität.
Eine Fülle von Refomen. Doch – und hier nun die erste Frage auf dem Weg Richtung «Kern der Schule», – was tun all diese Reformen? Sie organisieren, strukturieren, versuchen, die Schule zu modernisieren. Wird dadurch die Schule verbessert? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir klären, was Schule überhaupt ist.
Was ist Schule?
Sie ist, was sie tut. Sie strukturiert und organisiert.
Eine Schule besteht eigentlich aus nichts anderem, als Infrastruktur und Menschen, die strukturieren, organisieren, modernisieren und manchmal stehen bleiben. Für und in jedem einzelnen Schulhaus.
Aber was wird in jedem Schulhaus, in jeder Schule, von Lehrpersonen, Schulbehörden und immer mehr auch Eltern strukturiert, organisiert und gepflegt? Für was werden Liegenschaften zur Verfügung gestellt und Computer beschafft? Für was werden Exkursionen bewilligt und Dispensationsgesuche entschieden?
Richtig, es dreht sich alles um den Unterricht.
Wir organisieren die Schule so, dass die Schülerinnen und Schüler einen Unterricht erleben, der etwas bringt, lebt, sinnvoll ist. Damit diejenigen Dinge erworben werden, die man heute im Leben, nach der Schule, braucht. Das wirft die nächsten beiden Fragen auf: Welche Dinge sind das, die man im Leben braucht und die in der Schule gelernt werden müssen? Und: Was ist Unterricht? Die meisten Reformverantwortlichen konzentrieren sich auf die erste Frage. Aber auf dem Weg zum inneren Kern der Schule ist die zweite Frage wichtiger.
Was ist Unterricht?
Der Begriff Unterricht alleine ist noch nicht der Kern der Schule. Denn, was macht überhaupt eine Lehrperson in einem sinnvollen Unterricht? Was wird dort, in einem Klassenzimmer, organisiert und strukturiert? Unterricht besteht aus Lernenden, Lehrenden und vielen Lernprozessen, von jedem Einzelnen und als Klasse. Diese Dinge können unterschiedlich gestaltet werden. Lernen die Kinder besser, wenn der Unterricht gut strukturiert ist? Lernen die Kinder besser, wenn der Unterricht als Ganzes nicht viel Struktur hat, wenn die Lehrperson aber auf jedes Kind einzeln eingeht und sich alle gut kennen? Lernen die Kinder besser, wenn die Lehrperson den Stoff für die Klasse und für den Einzelnen Stück für Stück, Schritt um Schritt plant? Ist diejenige Lehrperson mit dem lauten Schulzimmer, oder diejenige, bei der immer Ruhe herrscht, die bessere (welche wird die bessere Mitarbeiterbeurteilung erhalten)? Oder kommt es auf etwas anderes an? Ich meine ja. Und erst diese Antwort trifft den Kern der Schule.
Das AHA-Erlebnis
Hatten Sie schon einmal ein AHA,Erlebnis? Haben Sie einmal etwas plötzlich wirklich begriffen, so dass sie sich gefreut haben? Nicht nur etwas gesehen und zur Kenntnis genommen, sondern haben Sie etwas wirklich gemeistert? Zum Beispiel ein Problem in einer schwierigen Mathematikaufgabe. Ich frage nicht nach der Wissensleistung , auf die Sie auch stolz sein dürfen – sondern nach einer Verständnisleistung. Der Moment, in dem einem ein Licht aufgeht. Dies ist der Moment, im dem gelernt wird. Dies ist der Kern, das Allerwesentlichste der Schule.
Aber wo und wann findet dieser Moment statt? Im Unterricht? Zuhause, beim Hausaufgaben lösen? Auf jeden Fall irgendwo im Lernprozess und sehr individuell. Er findet sehr selten für die ganze Klasse gleichzeitig statt, er findet in jedem einzelnen Schüler und in jeder einzelnen Schülerin statt.
Kann ich diesen Moment des Lernens voraussagen? Kann ich diesen Moment strukturieren? Kann ich ihn beeinflussen? Kann ich als Lehrperson garantieren, dass er eintritt? Falls nicht, bin ich haftbar, für etwas, was ich nicht garantieren kann?
Die Antworten lautet ehrlicherweise „Nein“. Der Moment selbst ist unplanbar. Anders die Bedingungen dafür: Sie können günstig oder ungünstig sein und sie können beeinflusst werden. Und genau dies zu tun ist die Aufgabe der Schule.
Sie ist die Organisation und Struktur, die versucht, Bedingungen für unplanbare AHA,Erlebnisse, welche für das Bestehen in unserer Gemeinschaft, Wirtschaft und Kultur wichtig sind, günstig zu machen.
Von innen nach aussen statt umgekehrt
Es bestehen nun zwei Perspektiven, aus denen heraus man Schule gestalten kann.
Man kann den Blick auf den Wandel der Gesellschaft und Kultur (Erziehung und Kulturtechniken) richten. Die Überlegung dazu lautet: «Weil ein Stoff heute und eine Fähigkeit morgen notwendig sind und es uns als Gemeinschaft wichtig ist, dass unsere Nachkommen diese Dinge beherrschen, darum muss die Schule so sein. Folglich braucht es Frühenglisch und Computer und folglich ist Sozial- und Methodenkompetenz wichtiger als Stoffwissen.» Dies ist der Ansatz, nachdem die meisten Reformen heute laufen. Es ist ein Ansatz, der die Schule von aussen her reformiert, mit Blick auf die Gesellschaft.
Man kann aber auch vom Punkt ausgehen, den ich geschildert habe, vom Kern der Schule. Die Grundfrage lautet: «Wie muss die Schule gestaltet sein, damit wesentliche AHA,Erlebnisse noch möglich sind?» Meiner Meinung nach ist dies viel der bessere Ansatz, denn ohne solche wesentliche Momente wird Schule zu einem sinnlosen Unternehmen, weil nur damit wirklich gelernt wird. Die Reformfrage lautet also: Was braucht es heute, damit den Kindern und Jugendlichen Lichter aufgehen?
Das Bild von der Petrollampe
Nun, für Licht braucht es einmal eine Lampe. Und Feuer. Nehmen wir kein Elektrolicht, bei dem man auf den Schalter drückt und ein AHA,Erlebnis hat. So einfach geht es nicht, Menschen sind keine Glühbirnen. Nehmen wir eine Petrollampe. Es braucht Brennstoff, der bereitgestellt und eingefüllt werden muss. Es braucht ein Schutz, ein Glas (durchsichtig, nicht eine Mauer), das Wind und Regen abhaltet, es braucht einen guten Stand oder eine Aufhängung, damit die Lampe nicht umkippt, und, sehr wichtig, es braucht ein Funke, der springt.
Ob die Lampe am Schluss brennt, hängt von all diesen Dingen ab. Derjenige Moment, in dem sich der Docht zur schönen Flamme entwickelt, entspricht dem AHA,Erlebnis. Für jede Erleuchtung muss die Lampe neu angezündet werden. Mit der Erfahrung steigt die Chance, dass es gelingt.
Zutaten zur Erleuchtung
Nochmals, was ist wichtig, damit Erleuchtung stattfindet? Petrol – Stoff, der bekannt gemacht wird (entspricht zum Beispiel einem Text oder einer Erklärung). Die Lampe braucht ein Glas, durchsichtiger Raum, zeitlich und örtlich, der die Flamme vor Wind und Wasser schützt und gleichzeitig das Leuchten sichtbar lässt. Dieser Raum entspricht dem Schulzimmer, der Geborgenheit und dem Vertrauen und der Anerkennung. Es braucht auch ein Docht, der funktioniert. Einer, der das Petrol, den Stoff aufsaugen kann, nicht zu breit und nicht zu schmal ist, nicht zu kurz und nicht zu lang, und brennen will. Der Docht entspricht der Schülerin oder dem Schüler. Und es braucht ein Funke, der auf den Dochten springt – eine Betroffenheit aus der Beziehung Stoff-Schüler, Lehrerperson-Schüler, Freunde-Schüler, Eltern-Schüler. Je besser alles zusammen spielt, desto eher leuchtet die Lampe.
Meine Aufgabe als Lehrer ist es, tagtäglich dafür zu sorgen, dass Erleuchtung stattfindet.
Aus der Funktion einer Petrollampe ergeben sich Erfordernisse, die für eine Schule wesentlich sind. Eine Schule muss die gleichen Dinge ermöglichen und zur Verfügung stellen, wie sie in eine Petrollampe benötigt. Stoff, Raum (Geborgenheit, Vertrauen, Schutz, Anerkennung), Zündenergie.
Schule ist gefährdet
Es gibt Gefahren. Die Funktion der Schule kann gestört und beeinträchtigt werden. Wer schon einmal einen Zweitakter (Rasenmäher,, Schiffs, oder Mofamotor) gestartet hat, weiss, dass ein Motor «versaufen» kann, wenn er zuviel Treibstoff erhält. Er wird nicht mehr anspringen. Wer schon einmal bei starkem Wind eine Kerze angezündet hat, erreichte dies nicht dadurch, indem er das Feuerzeug mit Windgeschwindigkeit bewegte (Forderung: Lehrpersonen müssen sich im zunehmenden Stress der Zeit gewandt mitbewegen), sondern im Gegenteil, durch den geschützten Raum einer holen Hand. Wer nicht schon selber etwas hat, das brennt, also nicht schon irgendwo in Flammen steht, kann niemals einen Funken zum Springen bringen.
Würde nun einfach mehr Petrol einfüllt, zum Beispiel Englisch auf der Unterstufe, so bringt es nichts. Die Dochten werden nicht automatisch breiter. Auch dann nicht, wenn man denkt, die Lehrperson müsse einfach ein bisschen mehr am Docht saugen.
Wenn man den Lehrepersonen, den Petrollampen-Managerinnen und -Managern, den eigenen Raum wegnimmt und sie der Windgeschwindigkeit aussetzt, so wird es schwierig, dass sie selber ihre Flamme heil zur Lampe bringen können. Dort wo die Flammen gut brennen, springen sie auch eher über. Soche Flammen kommen vom Herzen.
Man sagt zudem, in der heutigen Zeit seien die «Dochte» aus verschiedenen Gründen durchschnittlich weniger saugfähig als früher. Vielleicht werden sie nur zu fest dem Wind ausgesetzt. Vielleicht wechselt die Petrolmarke zu rasch, vielleicht ertrinkt der Docht, weil er während seiner kurzen Zeit in der Petrollampe noch Petrol saugen muss, dass er bereits zu Hause hätte saugen müssen. In seltenen Fällen besteht sogar Explosionsgefahr.