Lehrermangel herrscht auf der Sekundarstufe. Er wurde durch Notlösungen zugedeckt: Symptom- statt Ursachebekämpfung. Die Zürcher Volksschule läuft nicht auf dem Niveau, auf dem sie sollte. Die nachfolgende Stellungnahme im Kantonsrat wurde möglich, weil Johannes Zollinger (EVP, Präsident der Schulpräsidenten), Andreas Erdin (GLP) und ich (SVP) bereits im Frühjahr 2010, als der Lehrermangel offensichtlich wurde und vor Ausbrütung der Notlösungen, eine Interpellation dazu eingereicht haben. In der Sitzung vom 29. August 2011 wurde sie behandelt. Hier das Votum:
“Sehr geehrter Herr Kantonsratspräsident
Sehr geehrte Frau Bildungsdirektorin
Geschätzte Kantonsrätinnen und Kantonsräte
Der Lehrermangel auf der Sekundarstufe hat, seit diese Interpellation im Mai 2010 überwiesen wurde, an seiner Schärfe nichts eingebüsst.
Der Lehrermangel auf der Sekundarstufe wird aber inzwischen, mit Massnahmen, die auch in der vorliegenden regierungsrätlichen Antwort zu lesen sind, unter die Decke gewischt. Zwar steht nach den Sommerferien in jedem Schulzimmer eine Lehrperson. Dies dank:
- Vikaren, die überbrücken, bis die Stelle besetzt ist.
- Zahlreichen Lehrpersonen aus anderen Kantonen und aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland.
- Zahlreiche Quereinsteiger, die zum Teil sogar noch auf ihre Ausbildung warten, bis sie Platz finden im Lehrgang, und trotzdem schon auf die Schülerinnen und Schüler losgelassen werden. Und natürlich auch aus Quereinsteigern, die bereits im berufsbegleitenden Lehrgang aufgenommen worden sind.
- Zahlreiche stufenfremden Lehrkräfte.
- Sekundarlehrkräften, die in ihrem Pensum einzelne Fächer unterrichten, zu denen sie nicht ausgebildet sind.
Es hat unter diesen Notlösungen fähige Persönlichkeiten, die trotz mangelnden Voraussetzungen einen guten Job machen. Sie tun ihr Bestes als gute Pädagogen, ohne, dass sie das offizielle Lehrmittel schon kennen. Ohne dass sie den Lehrplan kennen. Ohne dass sie Mundart verstehen, ohne dass sie im Mathematikunterricht wissen, dass dieser heute konstruktiv vermittelt wird, ohne dass sie schon jemals von Stellwerk gehört haben, welches den Referenzrahmen liefert, mit dem ihre Jugendlichen dann im Winter geprüft werden. Hervorragende Mittelschullehrpersonen an der Sekundarschule, die aber mit Dritt-Sek-Jugendlichen umgehen wie mit Primarschülern oder wie mit Studenten, ungeachtet der Pubertät. Und so weiter und so weiter… Ausgebildete Kolleginnen und Kollegen unterstützen sie im Alltag dabei, entschädigungslos – und haben so selber Mehrarbeit.
Die ganze Zürcherische Lehrerbildung wäre für die Katz, wenn diese Notlösungen in ihrer Mehrheit auf Anhieb einen qualitativ gleich guten Unterricht halten, wie diplomierte Lehrpersonen auf der richtigen Stufe, mit den richtigen Fächern, in ihrer Mehrheit.
Da die Zürcher Lehrerbildung zwar reformbedürftig, aber dennoch nicht für die Katz ist, ist es allen Behörden, Lehrerkolleginnen und Kollegen, Schulleitern und vor allem den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern, den Eltern, Sand in die Augen gestreut, wenn das Volksschulamt Entwarnung gibt. Die Stellen sind besetzt. Stellen wir aber fest, wie die Stellen besetzt sind, dann wird gewahr, dass die Zürcher Volksschule nicht auf dem Niveau läuft, auf dem sie sollte. Obwohl alle viel arbeiten.
Weder die kürzliche Lohnrevision noch der anstehende neue Berufsauftrag werden den Lehrberuf merklich attraktiver machen. Auch weniger Wochenlektionen sind nur Kosmetik. Der Beruf ist eigentlich bereits attraktiv: Die Arbeit mit den Kindern, das eigene Schulzimmer, der abwechslungsreiche Alltag, der Lohn, der zu einem gut mittelständischem Leben reicht, Herausforderungen, ein ausgeglichener Mix aus Kopfzerbrechen, Kunst und Sport. Weder jeden Nachmittag in einer betrieblichen Werkstatt, noch im Garten, noch auf einem Hausdach, noch hinter einem Computerbildschirm zu verbringen, ist attraktiver. Lehrer ist eigentlich ein cooler Beruf! Wo liegt dann der Wurm begraben?
Beispielsweise darin, dass die richtige Lehrpersonen am richtigen Ort dank der heutigen Lehrerbildung und Schulorganisation zum Resultat eines Puzzlespiels geworden ist, welches viele am Arbeitsplatz nicht erleben. Sie müssen dann unter ihrem Niveau arbeiten, im falschen Fach. 1
Die Lehrmittel sind nicht gut – flächendeckenden Probeversionen führen zu nächtelanger sonst unnötiger Zusatzmaterial-Erstell-Arbeit, zu viel pädagogisch unergiebigen Arbeit.2
Neue Hierarchien um sich herum, die Persönlichkeiten im Beruf und Originale zu wenig zulassen, kontrollieren statt Rücken stärken. Es „menschelet“ vielenorts mindestens so stark, wie in schlecht geführten Betrieben der Privatwirtschaft auch.
Kompetenzen und interessante Fälle in der Erziehung gingen an Spezialisten verloren, teilweise ist man froh darum, weil sie so weniger Arbeit geben, teilweise weil man dann weniger Verantwortung mehr tragen muss. Aber Berufe mit weniger Verantwortung sind weniger attraktiv.
Wer wieder mehr richtige Lehrpersonen am richtigen Ort will, muss den Beruf zu dem machen, was er einmal war. Das heisst auch, an einigen Orten Schule und Lehrerbildung umorganisieren, die Reformen des letzten Jahrzehnts sehr kritisch zu prüfen.
Doch stattdessen planen Theoretiker, dass wir künftig allabendlich unsere Arbeitszeit nach Tätigkeiten getrennt erfassen sollen. ….“3
Anmerkungen
- Mit dem Gesetz über die Pädagogische Hochschule aus dem Jahr 2001 wurden Fächergruppenlehrkräfte geschaffen. Zusätzlich verkompliziert sich die Lage durch die neue Art der Finanzierung der Volksschule durch Vollzeiteinheiten statt über die Bewilligung der Klassenbildung ab 2004. Zudem durch die Mindestpensen. Eine weitere negative Folge davon ist, dass die Anstellung von Lehrpersonen jährlich um einige Lektionen schwanken kann, so dass ein konstantes volles Einkommen nicht immer garantiert ist (hängt vom Anstellungsvertrag ab, der schwankende Pensen vorsehen kann). Das macht den Beruf auch nicht attraktiver.
- Zwei Gründe: Erstens werden Lehrmittel oft von progressiven Didaktikern geschrieben und sind für die Situationen, in denen sich die grosse Mehrheit der Lehrpersonen befinden, nur mit viel Aufwand sinnvoll anwendbar – im Gegensatz zu längst adaptierten älteren Lehrmitteln. Neue Lehrmittel richten sich auch oft an pädagogischen Grundsätzen aus, die nicht von allen Lehrpersonen und Eltern mitgetragen werden. Die gesetzliche Verankerung der Lehrermitsprache bei der Schaffung neuer Lehrmittel wurde 2006 im neuen Volksschulgesetz von den Befürwortern abgelehnt. Zweitens werden neue Lehrmittel zu hastig geschaffen und eingeführt. Beim neuen Mathematik-Lehrmittel kam der Lehrmittelverlag und das Autorenteam kaum nach mit der Produktion, Materialliste, Lernzielliste, Materialbeschaffung, Korrigenda, … wurde von zig Lehrpersonen der Stadt Zürich in nächtelanger Arbeit für alle drei Jahre neu und individuell erfunden. Vom Verlag liegen diese wichtigen Materialien bis heute erst für das erste Sekundarschuljahr vor. Und die Lehrmittel können erst in den Sommerferien geliefert werden.
- So wird die Arbeitszeit für die Kontrolle des neuen Berufsauftrags erfasst. Bildungsdirektorin Regine Aeppli bestätigte diese Absicht in der Replik zu diesem Votum.