Kommentar im Zürcher Bote vom 8. Juni 2018.
Die wertvollste Zeit für Kinder ist glückliche Familienzeit. Zum Beispiel Eltern, die ihre Kinder über Mittag gerne sehen, sich für den Verlauf des Schulmorgens interessieren, gekocht haben, eine Pause vor dem Unterricht und vor den anderen Kindern gewähren und die sie dann gestärkt am Nachmittag wieder in die Schule schicken: Behütetet, Urvertrauen. Glücksempfinden. Kinder, die dies erleben, werden später weniger psychische Probleme haben und Eltern, die dies leisten können, erweisen der Gesellschaft einen grossen Dienst.
Nur leider entspricht der geschilderte Zustand nicht der breiten Realität. Der «Kanton Zürich in Zahlen», die aktuelle Broschüre vom statistischen Amt zeigt: Zwischen 2014 und 2016 war bei noch 23 Prozent aller Familien nur der Mann berufstätig (vor fünfzehn Jahren noch bei 40 Prozent). Bei den anderen Ehepaaren mit Kindern arbeiten beide mindestens Teilzeit. Somit werden die meisten Kinder über Mittag von Drittpersonen betreut. Nicht jeden Tag, aber regelmässig.
Dafür sorgen die meisten Familien privat (Grosseltern, Tageseltern, Nanny, Eltern von Schulfreunden). Dennoch sind die Schulen seit der Einführung des neuen Volksschulgesetzes vor zehn Jahren verpflichtet, Tagesstrukturen (Mittagstisch, Hort) nach Bedarf anzubieten und mindestens am Morgen die Kinder nie nach Hause zu schicken (Blockzeiten). Nun wollen einzelne Schulgemeinden, zum Beispiel die Stadt Zürich, weiter gehen: Das Mittagessen mit der Mittagszeit soll obligatorisch werden. Das nennt man dann nicht mehr Tagesstrukturen, sondern Tagesschule.
In Tagesschulen müssen während der Mittagszeit gemeinsame pädagogische Aktivitäten stattfinden (z.B. Ämtli, anständig Essen lernen, Hausaufgabenhilfe) und die Mittagszeit kann verkürzt werden, so dass es zeitlich nicht mehr reicht, nach Hause zu gehen.
Über Mittag obligatorisch in der Schule bleiben? Für die SVP geht dieser Eingriff in die Familie zu weit: Wir haben die Gesetzesgrundlage dafür im Kantonsrat bekämpft. Wir waren die Einzigen.
Kinder, die zu Hause bei Eltern essen, gibt es noch. Nicht nur die oben gezeigten 23 Prozent sondern auch von den teilzeitarbeitenden Eltern: Vielleicht wären Mutter oder Vater gerade an jenem Tag zu Hause, wenn die Schule den obligatorischen Mittag will. Umso tragischer, dann zerstört die Tagesschule nicht nur Familienzeit, sondern seltene Familienzeit.
Tagesschulen können von der Schulbehörde beschlossen werden. Diese muss sicherstellen, dass der Schulbesuch auch ohne obligatorische Mittagsbetreuung möglich ist. In der Kommission für Bildung und Kultur haben wir den Widerspruch diskutiert: Wie geht das – ein Betreuungsangebot obligatorisch erklären und doch nicht besuchen müssen? Die Lösung: Kinder, welche die Tagesschule nicht besuchen wollen, können in einem anderen Schulhaus, vielleicht sogar in der Nachbargemeinde, zu Schule geschickt werden. Somit hat man als Familie die folgende Wahl: Entweder wir verzichten auf Familienzeit oder das Kind muss entfernt, mit anderen «Gspändli», zur Schule. Das, mit Verlaub, ist keine Wahl, sondern Unter-Druck-Setzen.
Die Wahlmöglichkeit für Eltern, die Freiheit für die Familien ist für das spätere freie Denken der Kinder (und damit für die Demokratie) ein Kern, der gelebt werden will. Baut man Erziehung nicht auf eigenen Bindungen, sondern übergibt die Kinder fünf Tage, von früh bis spät dem Staat, so erntet man in dreissig Jahren nicht eine freiheitliche Gesellschaft, sondern auf Eine, die ohne Staat nicht mehr stehen kann. Man kann, zum Beispiel, die erwähnten Zahlen auch so lesen: Die Fähigkeit, eigene Kinder immer zu betreuen, ist seit Einführung der Horte von 40 auf 23 Prozent gesunken. Erklärt man diese Zusammenhänge der FDP – oder der Familienpartei CVP: Sie lachen nur.
Matthias Hauser, Kantonsrat, www.matthias-hauser.ch