Selbst in Bukarest, der 7. grössten Stadt der EU, leben über 3000 Kinder auf der Strasse ohne Schulbildung. Weltweit besuchen laut UNESCO über 60 Millionen Kinder keinen einzigen Tag die Schule, viele andere, welche die Schule besuchen können, verlassen sie vor Grundschulabschluss, in Ländern Afrikas bis zur Hälfte der Kinder. Viele müssen einfach arbeiten. Sie wären froh, sie würden in die Schule gezwungen und erhielten eine Zukunft.
Oben im Elfenbeinturm kann es nur noch abwärts gehen – und wir tun alles dafür, dass es auch so kommt
In Südkorea lernen Kinder und Jugendliche stundenlang neben der Schule. Südkorea hat gerade einen beispielslosen Aufstieg von einem Agrarstaat zu einer führenden Industrienation hinter sich und drängt weiter. Die Schweiz hingegen ist heute von solchen Bedürfnissen verschont. Es waren unsere Ur-Ur-Ur-Grosseltern, die von der Feldarbeit auf dem elterlichen Betrieb in die Schulbank gezwungen wurden. Ohne dies wäre die heutige Dienstleistungs- und Wohlstandsgesellschaft undenkbar, der Elfenbeinturm, den wir gegenüber dem Rest der Welt sind. Aus der Höhe dieses Turms kann es nur noch abwärts gehen. Und wir tun alles dafür, dass es auch so kommt.
Ein Elfenbeinturm im Elfenbeinturm sind unsere Gymnasien: Gegenüber arbeitenden Jugendlichen mit 13 Wochen Schulferien gesegnet, in schönen Schulanlagen, mit vielen Sonderaktivitäten wie Klassenlager, Spezialwochen und nicht zu letzt erhalten die Jugendlichen ständigen Kontakt zu gut bezahlten Akademikern, ihren Lehrpersonen. So privilegiert und vom arbeitenden Teil der Bevölkerung finanziert, forderten wenige Jugendliche, Teilnehmer eines Wahl-Projekt-Kurses «politische Kampagne», dass sie zwei Tage im Jahr ohne Angabe eines Grundes frei nehmen dürfen in Zukunft: Jokertage wie an der Volksschule. Vielleicht war’s auch die Idee vom Lehrer, der ein Thema für seinen Kurs suchte und die Forderung schliesslich als Einzelinitiative dem Kantonsrat einreichte.
In den letzten 30 Jahren: Einführung schulfreier Samstage, Verkürzung des Gymnasiums auf vier Jahre, Maturitätsanerkennungsreform, bei der das Gewicht der harten Fächer Chemie, Physik und Biologie zu Gunsten einer selbständigen, kaum je ungenügend ausfallenden Maturitätsarbeit reduziert wurde, einfachere Aufnahmeprüfung ab der dritten Sek, prüfungsfreier Wiedereintritt nach nicht bestandener Probezeit, anders als Berufsmittelschulen keine Aufnahmeprüfung in Englisch, Selbstlernsemester, im Gegensatz zur Volksschule fallen Lektionen ersatzlos aus bei der Absenz einer Lehrperson, weil diese zum Beispiel zum Korrigieren von Aufnahmeprüfungen eingeteilt wurde: Kein Wunder, sind mittlerweile nicht mehr die besten und leistungsbereitesten zehn Prozent im Gymnasium, sondern 22% aller Jugendlichen im Alter des zehnten Schuljahres.
Brauchen wir überhaupt so viele Akademiker? Informatiker, Ingenieure, Mathematiker, Ärzte: Ja. Doch Juristen und Philosophen haben Glück, wenn sie nach der Ausbildung eine passende Stelle finden. Brillante sind leider nicht mehr alleine auf dem akademischen Stellenmarkt. Zudem werden längst nicht alle Gymnasiasten Akademiker: Einige sorgen auf Plätzen, die für Berufsschüler gedacht gewesen wären, für aus den Nähten platzende Fachhochschulen. Wenn jemand wirklich breit interessiert, begabt, leistungsbereit ist: Ja, die/der gehört ins Gymi. Aber zwei Tage mehr Freizeit fordern zeugen nicht davon! Wer Jokertage einführt, findet Freizeit wichtiger als Leistung. Gerade deshalb ist logischerweise auch der Kantonsrat grossmehrheitlich dafür.
Jokertage beziehen nicht diejenigen Jugendlichen, die es sich leisten können….
Noch ein paar Blitzlichter aus der Debatte:
- EVP-Kantonsrat Hanspeter Hugentobler, meinte: Jeder der arbeite, könne sich ein freier Tag ab und zu zum Vergnügen nehmen. Diese Selbstverantwortung stehe auch den Gymnasiasten zu. Faktencheck: Hundertausende von Arbeitnehmern arbeiten in Überzeit. Aufträge, nicht Lust und Unlust, bestimmen die freien Tage. Jokertage gibt’s nur im Elfenbeinturm.
- Hugentobler, Schulpräsident, meinte weiter, Jokertage verursachten nur geringste Administration, seien in der Volksschule kein Problem. Faktencheck: Kein Problem sind sie, weil Lehrpersonen ihren Job machen, dazu gehört das Absenzenwesen. Darüber beschwert man sich sicher nicht bei Schulpräsident Hugentobler. Der Aufwand: Eintragen der Absenzen, alle betroffenen Lehrpersonen über Abwesenheit des Schülers informieren, Nachschreiben lassen von Prüfungen, evtl. Nachhilfe geben. Das häuft sich vor den Sommerferien, wenn einige Jugendlichen die Jokertage noch nicht verbraucht haben. Am Wenigsten zu tun gibt es, wenn die halbe Klasse am gleichen Tag den Joker zieht für einen Ausflug in den Europapark. Kommt immer wieder vor. Leider sind es halt oft nicht diejenigen Jugendlichen, die es sich fachlich leisten könnten, zu fehlen, die auch tatsächlich fehlen… und wenn ein solcher dann nur provisorisch ins neue Semester ausgenommen wird, dann geht der Aufwand für alle Betreuerinnen und Betreuer erst richtig los.
- Sabine Wettstein, FDP, bedauerte im Rat, dass Jokertage nicht auch an Berufsschulen eingeführt werden können, da diese dem Bundesrecht unterstehen. Faktencheck: Wenn die Berufsschule ausfällt, geht ein Stift normalerweise nicht seiner Freizeit nach, sondern im Lehrbetrieb arbeiten. Man hat Wettstein schon Wochen vor ihrem Ratsvotum aufgeklärt. Erfolglos.
Schulleiterkonferenz der Mittelschulen ist gegen Jokertage
Das Verrückte am Ganzen ist, dass keine Elternorganisation, ja nicht einmal die Schülerorganisationen der Mittelschulen Jokertage forderten. Die Schulleiterkonferenz der Gymnasien war lobenswerterweise explizit dagegen. Die Bildungsdirektion ebenso. Der Kantonsrat führt die Jokertage ohne jede Not ein.
Und bewirkt damit, dass sich das heute oft grosszügig gehandhabte Absenzenwesen auf Grund von Gesuchen (Schüler lernten, gut begründetet Gesuche für sinnvolle Absenzen zu stellen und die Schulen lehnte auch einmal ab, wenn ein Jugendlicher schon sonst viel verpasst hatte) verändern wird. Nebst den Jokertagen wird es kaum mehr Zugeständnisse auf dem Gesuchsweg geben. Die Fleissigen müssen die Jokertage schlussendlich für ihre freiwilligen Studienwochen opfern, während andere damit Prüfungen schwänzen. Und so wird sich die Vorlage als Bumerang erweisen: Für die Schülerinnen und Schüler – und für die Gesellschaft langfristig.
Wir entwickeln uns zur Spassgesellschaft – Südkorea wird uns überholen. Und wenn ein Kind, das in Indien täglich staubige Feldarbeit verrichten muss, statt lesen lernt, erkennen könnte, mit was für Probleme wir uns hier herumschlagen… Wir sollten uns schämen!
Matthias Hauser, veröffentlicht im Zürcher Boten vom 26. Januar 2018