Gegen den Trend – Kommentar für den Wochenspiegel vom 8. Juni 2011
Noch vor vier Monaten waren sich Energiespezialisten von CVP bis SVP einig: Die Schweiz braucht ein neues Kernkraftwerk. Die Frage war nur, wie es gelingt, die Mehrheit der Bevölkerung davon zu überzeugen. Inzwischen entschuldigen sich die gleichen Politiker, weshalb sie den sofortigen Ausstieg ablehnen, aber später allenfalls trotzdem dafür sind. So wird das mit dem neuen Kernkraftwerk nie etwas.
Leider, denn die Energiebilanz von Uran ist riesig. 1 kg Uran liefert die gleiche Menge Energie wie 10’000 kg Kohle, 7’000 kg Erdöl, 4’900 kg Erdgas. Zwei Murmeln aus Uran reichen aus, um eine vierköpfige Familie ein Jahr lang mit Strom zu versorgen. Es wäre direkt wider die Natur, auf derart positive Entwicklungen zu verzichten.
Die Energie, die aufgewendet werden muss, um Uran zu gewinnen, aufzubereiten und Kernkraftwerke zu bauen etc. beträgt nicht einmal 10% des Energiegewinns: Ähnlich wenig wie bei Wasser- und Windkraft, viel weniger als bei der Solarenergie (30%). Zudem fällt bei der Herstellung von Solarzellen Sondermüll an, der deponiert wird.
Überhaupt sind die Alternativen zur Kernenergie ebenfalls nicht rosig und oft aus der Welt des sience fiction.
Zuerst zu den erprobten Technologien: Der Atomausstieg der Schweiz bedeutet jährlich ein Bedarf von 10’000’000 Tonnen Kohle (=180’000 Eisenbahnzüge), oder von 5’215’000 Tonnen Erdöl oder 3’740’000 Tonnen Erdgas. Oder ein 700 Meter breites Band Solarpannels vom Genfer- bis zum Bodensee (220 Quadratkilometer). Oder 5’500 Stück der heute leistungsfähigsten Windkraftanlage. Die leistungsfähigen Alternativen zur Kernkraft sind Erdöl (Umweltkatastrophen im Golf von Mexiko vor einem Jahr, Exxon Valdez 1989 und weitere), Gas (riesige Pipelines, hochexplosiv) und Kohle (8% der jährlichen 2.3 Millionen tödlichen Arbeitsunfälle geschehen im Bergbau = 504 Tote pro Tag). Alle drei verwandeln sich bei der Nutzung in pures CO2. Die Kernspaltung ist CO2 frei.
Nun zum sience fiction. Ein Beispiel: In der letzten Maiwoche war in einer Tageszeitung in der Rubrik „Good News“ zu lesen, Solarzellen rund um den Mondäquator könnten den gesamten Energiebedarf der Erde decken. Mit Laserstrahlen und Mikrowelle wird die Energie zur Erde geschickt (Projekt der Japanische Shimizu Cooperation). Wenn Ideen neu und fantastisch sind, spricht niemand von Gefahren. Hoffen wir, die hochenergetischen Laser- und Mikrowellen, die zwischen Mond und Erde rund 360’000 km zurücklegen, treffen immer ihr Ziel. Wenn nicht, werden wir gegrillt. Trotz Erdbeben in Basel setzt der grün-rote Zürcher Stadtrat auf Geothermie. Apropos Wärme: Die zwei Reaktoren in Beznau liefern nebenbei Fernwärme für 18’000 Haushaltungen.
Es ist sicherer, sich auf die handfeste Forschung des Würenlinger Paul Scherrer Instituts zu verlassen, auf den ETH-Lehrstuhl für Kernenergiesysteme. Und auf die angehenden 40 Nuklearingenieure. Würde ein Reaktor heute neu gebaut, hätte er wie die heutigen Typen Reaktorhülle, Betonkammer, Stahl-Sicherheitshülle und die flugzeugabsturzsichere Kuppel. Zusätzlich würde er mit mehreren, neuen passiven Sicherheitssystemen versehen: Ein “core catcher“ verhindert bei der Kernschmelze das Absickern in den Boden, unabhängig voneinander und nur durch die Schwerkraft funktionierende Kühlsysteme zum Abkühlen von abgeschalteten Brennstäben verhindern einen Kühlstop bei Stromausfall wie in Fukushima. Dort hat die Notabschaltung der Kernspaltung übrigens funktioniert.
Selbst unsere heutigen Reaktoren sind sicher: Der Unfall in Three-Mile-Island, USA, hat bereits 1979 gezeigt, dass ein Tschernobyl nicht möglich wäre: Die Kernschmelze konnte in der Sicherheitshülle aus Stahl aufgefangen werden. In der Schweiz kühlen zwei unabhängig voneinander funktionierende Kühlsysteme, einige der Notstromaggregate bleiben bei Überschwemmungen trocken. Restrisikos sind Vulkanausbrüche, extrem grosse Erdbeben, mehrfaches menschliches Versagen. Mindestens vor den Basler Versuchen mit Geothermie waren Erdbeben noch ziemlich selten bei uns.
Genau deshalb braucht es ja mit der Zeit neue Reaktoren. Und diese sind auch leistungsfähiger als die Alten. Ein neuer Reaktor leistet das Doppelt bis Dreifache. Zur Zeit wächst der Stromverbrauch jährlich um 4%. Bauen wir also, nach und nach als Ersatz für die Alten, auch etwa deren fünf. Dann ist unsere Energieversorgung einstweilen gesichert. Oder bauen wir mehr: Dann können wir dem ausgestiegenen Deutschland sauberen Atomstrom verkaufen. Fukushima hat an diesen Zusammenhängen nichts geändert.
Jede Menge positiver Punkte für die Atomkraft. Die große Frage, die Sie aber klammheimlich ausgelassen haben, ist die Frage der Endlagerung des anfallenden Sondermülls in der Atomstromproduktion aka. Atommüll. Dass auf Siliziumbasis aufgebaute Solarzellen dagegen einfach zu entsorgen sind, steht für mich außer Zweifel. Man kann natürlich sagen, der Atommüll von heute ist der Treibstoff von morgen – das Problem hier ist nur, dass das genauso Zukunftsmusik ist wie das beschriebene Projekt der Shimizu Coop.
Selbst in der Geothermie ist noch nicht aller Tage Abend. Wir hätten hier eine gigantische Energiequelle – nur verwenden wir sie im Moment scheint’s noch nicht richtig. Vielleicht ist Ehoch10 (www.ehoch10.at) ein Ansatz, der das Problem in der Dimension eines Atomkraftwerks lösen kann?