Die Neutralität als Strategie der Zukunft

 Zum Begriff «Neutralitätsmarketing»

In Diskussionen über die Zukunft der Schweiz kommt zum Vorschein, dass landläufig kaum bekannt ist, was sich hinter dem Begriff «Neutralität» verbirgt, welcher Wert bei einem UNO-, EU- und NATO-Beitritt geopfert werden müsste. Während «Neutralitätsbefürworter» oft glauben, die Neutralität sei per se einfach ein Garant für Sicherheit, stellen Internationalisten die Neutralität als Mythos dar, der als Stolperstein auf dem Beitrittsweg zu UNO, EU und NATO umdefiniert werden muss. Dabei verkennen sie die Chance und Weltbedeutung, die sich einer neutralen Schweiz bei einer entsprechenden Vorwärtsstrategie erst recht nach 1989 bieten würde.

Die Neutralität der Schweiz ist zweiteilig. Zum einen haben wir, als einziger Staat der Welt, ein Neutralitätsrecht, welches uns im Kriegsfall eine strikte Neutralität (Nichtparteinahme, Nichteinmischung) vorschreibt, solange die Schweiz oder ihre Hoheitsrechte nicht selber Ziel kriegerischer Handlungen sind. Das Neutralitätsrecht wurde 1815 (Wiener Kongress) von den Grossmächten völkerrechtlich anerkannt und garantiert. Die Schweiz ist der einzige neutrale Staat der Welt, der rechtlich festgelegt eine immerwährende, bewaffnete und umfassende (militärische, politische und zumeist auch wirtschaftliche) Neutralität hat. In Schweden beispielsweise, einem anderen als neutral bekannter Staat, wird die Neutralität fallweise vom Parlament neu beschlossen. Streng genommen ist unsere Neutralität ein Kriegsrecht und gilt nur gegenüber Konfliktparteien. Im Frieden, also auch in der Diskussion um einen UNO-Beitritt, debattieren wir vielmehr über die Neutralitätspolitik. Wir müssen uns dabei bewusst sein, dass nur bei einer Nichtmitgliedschaft in internationalen Organisationen die Neutralitätspolitik so geführt werden kann, dass sie in entsprechenden Momenten erlaubt, glaubwürdig auf das auch bei Beitritten immer noch vorhandene Neutralitätsrecht zurückzugreifen. Man kann nicht im Namen der UNO an einer Strafaktion gegen einen «Schurkenstaat» teilnehmen und gleichzeitig Unparteilichkeit geltend machen. Das glaubt niemand.

Glaubwürdigkeit

Neutralität bringt nur dann konkrete Vorteile, wenn sie respektiert wird. Das heisst, sie muss, im, zumindest nicht gegen den Interessen der Kriegsparteien liegen; in der heutigen Weltordnung also auch im Interesse der UNO, während dem Zweiten Weltkrieg im Interesse der Alliierten und der Achsenmächte. Dies bedingt, dass wir unsere strategischen Güter (Alpenübergänge, Armee, Infrastruktur und Wirtschaft, Stabilität, Wasser) so beschützen, dass niemals eine Kriegspartei oder Terroristen aus ihnen Vorteile gegenüber anderen Kriegsparteien oder gegenüber anderen Terroristen erlangen können. Deshalb ist nur eine bewaffnete Neutralität glaubwürdig.

Vorteile für die Schweiz

Was bringt die Neutralität überhaupt an Vorteilen für uns? Sie definiert die Aussenpolitik und setzt damit erstens mehr Energie für die Probleme im Innern frei und verhindert zweitens innenpolitische Polaritäten (auch unter Ausländergruppen) bezüglich der Aussenpolitik. Sie würde unsere sicherheitspolitischen Ausgaben auf das zur Verteidigung der strategischen Güter Notwendige beschränken, bringt in Friedenszeiten als Sitz internationaler Organisationen, und zugegebenermassen in Krisenzeiten durch Beibehaltung guter Beziehungen zu allen Parteien, wirtschaftliche Vorteile. Sie ist vor allem, wenn sie von möglichen Konfliktparteien (Staaten, Bevölkerungsgruppen, Terroristen) in deren Eigeninteresse respektiert wird, eine wahrlich menschenlebenschonende Strategie zur Sicherheit der Schweiz.

Bedeutung für die Welt

1991 (Zweiter Golfkrieg) beschloss der Sicherheitsrat der UNO (15 Mitglieder, wovon ständig die USA, Grossbritannien, Frankreich, China und Russland) erstmals, einen einzelnen Staat (Irak) zu bestrafen. Seither hat die Konfliktbewältigung der Weltgemeinschaft das Muster, dass fast die ganze Welt in der UNO und die halbe Welt in der NATO versucht, einzelne «Schurkenstaaten» zum Einhalten der Menschenrechte zu zwingen, mit Boykotten oder Gewalt. War und blieb der Irak zwar UNO-Mitglied, so wurden Serbien und Montenegro zu diesem Zweck aus den Vereinten Nationen ausgeschlossen. Sehen die UNO- und NATO-Mächte nun plötzlich, dass man eigene Mittel, Soldatenleben und feindliche Zivilistenleben sparen könnte, wenn sich verhandeln liesse, anstatt den «Schurkenstaat» weiter zu zerschlagen, so wird dieser Weg umso eher offen stehen, je weniger der «Schurke» dabei das Gesicht verliert. Dieses verliert er, wenn er im eigenen Land fremde Bedingungen akzeptieren muss oder nach Brüssel oder New York (die feindlichen Hauptquartiere) zitiert wird. Folglich muss es – und sei es nur zum Offenhalten dieser Option – einen Staat geben, der weder mit Brüssel noch New York zu innig verbunden ist, der aktiv für alle Parteien gesichtswahrende Vermittlungsdienste anbietet, der über Sicherheit und Infrastruktur verfügt. Welches Land ist hier besser geeignet als die zentral gelegene Schweiz, einziges Land mit völkerrechtlich anerkanntem immerwährenden Neutralitätsrecht, weder UNO, EU noch NATO-Mitglied?

Humanitäre Stärke

Noch etwas ginge der Welt bei einer unglaubwürdigen Neutralitätspolitik der Schweiz verloren: Humanitäre Organisationen und Katastrophenhilfe, welche ihre Energie statt für den Selbstschutz für die Hilfe an den Opfern (Zivilisten und Soldaten) aller Konfliktparteien aufbringen wollen, sind auf die Akzeptanz der Konfliktparteien und deren Bevölkerungen angewiesen. Ein Hilfskonvoi ist ein Stück humanitäre Neutralität (fast ein Stück fahrende Schweiz), das im kriegerischen Land Opfer versorgt. Die glaubwürdigste Basis hierzu bietet unser Land.

Neutralitätsmarketing

Statt fahrlässig die Optionen Verhandlungsplatz, Vermittlungsdienst und Humanität aufzugeben, sollten wir uns in ihnen spezialisieren. Mittel, die wir heute für Buntmützen ausgeben, sollten dem Roten Kreuz oder der Katastrophenhilfe zufliessen, der Verhandlungsplatz und Vermittlungsdienst muss durch das EDA aktiv in allen Konflikten immer wieder angeboten werden. Wir müssen die Vorteile der Neutralität besser nutzen und vermarkten: Neutralitätsmarketing! Länder, die für die Sicherheit und für militärischen Druck sorgen (viel besser als wir es können), gibt es genug. Ein Land, das Opferhilfe zum aussenpolitischen Service macht und gesichtswahrende Verhandlungen anbietet, gibt’s nur ein wirklich gut geeignetes. Doch statt sich dieser Aufgabe im Dienste der Menschheit anzunehmen, wird die Eignung dazu zur Zeit von vielen Verantwortlichen im Lande, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht weil man Angst hat, eine einsame Rolle in der Welt zu spielen (also aus Gruppendruck) wegdefiniert.